Training

Auf Plattformen wie YouTube oder Instagram wird es (insbesondere jungen) Männern vorgelebt: Schlank, aber muskulös, ist das dargestellte Schönheitsideal. Ein Körperbild, welches nach Optimierung und Funktionalität schreit. Es signalisiert: Dieser Mensch ist diszipliniert und gewillt hart an sich zu arbeiten. Schön maskulin eben. 

Der Traum nach dem Waschbrettbauch oder immerhin der Optimierung des eigenen Körpers ist bei Männern groß, geht es nach den Statistiken. Im Jahr 2021 besuchten rund 11,1 Millionen Männer häufig oder ab und zu ein Fitnessstudio, was einem Anteil von 31,8% der männlichen Bevölkerung in Deutschland entspricht. Für die einen heißt es Fettabbau, für die anderen Muskelaufbau – oder beides gleichzeitig, wenn möglich. 

Ansporn und Inspiration zu neuen Übungen findet man bei Online-Experten in den Sozialen Medien. Internationale Stars wie die Macher hinter dem Kanal von „Athlean-X“ haben gut und gerne mal über 12 Millionen Abonnenten. Sie wollen über Fitness aufklären und dabei helfen, den eigenen Traumkörper zu erreichen – auch fundiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Welche Routine hilft am besten bei Muskelaufbau? Ein Ganzkörpertraining dreimal die Woche? Oder doch lieber ein Bro-Split?  Was sollte man vor und nach einem Workout auf gar keinen Fall machen? Was sind die häufigsten Anfängerfehler?

Das ist per se erst einmal nichts Schlechtes – auch vor dem Hintergrund, dass Grünen-Politiker Cem Özdemir erst kürzlich gegenüber der „BILD am Sonntag“ erklärte, dass mehr als 50 Prozent der Menschen übergewichtig seien. Die erschreckende Erkenntnis: Jährlich sterben in Deutschland 160 000 Menschen an den Folgen von Übergewicht. Durch oder mit Corona starben 2021 108 000 Menschen. Diese Zahlen, die das Pandemie-Geschehen in keiner Weise kleinreden sollen, zeigen: Am eigenen Körper zu arbeiten, ist sinnvoll. Nicht nur für den Körper, sondern auch für den Geist. Gerade Menschen, die mit geistiger Arbeit und stundenlangem Sitzen vor dem Computerbildschirm im Homeoffice ihr Geld verdienen, können Sport für einen entsprechenden Ausgleich nutzen. 

Wie „Body Transformations“ Druck erzeugen

Aber dann ist da noch eine andere Seite der Körperoptimierung bei Männern. Gibt man auf YouTube „Body Transformation“ ein, wird man schnell fündig. Tausende Ergebnisse mit bis zu über 50 Millionen Aufrufen pro Video erscheinen. Das Thumbnail? Meistens ein zweigeteiltes Bild: Auf der linken Seite der „alte“ Körper mit dem die entsprechende Person unzufrieden war und auf der rechten Seite der „neue Körper“. Ganz nach dem Motto „New Body, new me“ wird gezeigt: Harte Arbeit bringt etwas. Aber wie viel sie bringt? Da gehen die Ergebnisse auseinander – genauso wie die Versprechungen der Thumbnails. Während manche Videos seriöser daherkommen und einen Fortschritt über mehrere Monate bis hin zu Jahren zeigen, versprechen andere Videos den Traumkörper in nur 14 (!) Tagen. 

Dass bei den Bildern zum Teil auch gelogen wird, soll mal nicht unterstellt werden – auch, wenn das immerhin bei letzterem Beispiel angezweifelt werden darf. Jedoch lassen diese Art von Videos wichtige Informationen außen vor. So ist es üblich, den Körper nach dem angegebenen Trainingszeitraum in einem deutlich schmeichelhafteren Licht darzustellen, wodurch Muskeln eher hervorstechen. Darüber hinaus sind insbesondere Transformationsvideos über einen kurzen Zeitraum von Menschen erstellt, die bereits einmal trainiert haben und nun versuchen ihre alte Form wieder herzustellen. Warum ist das so wichtig? Muskeln, die einmal aktiviert waren, wachsen deutlich schneller wieder nach als Muskeln, die noch nie trainiert wurden. Ganz ähnlich wie bei gelernten Inhalten. Lernt man etwas neu, dauert es länger, als wenn man Wissen nur auffrischt. 

Diese Videos, die eigentlich motivierend sein sollen, können so schnell deprimierend wirken. Was, wenn man alles macht, was empfohlen wird, wenn man sich auch streng an Ernährungspläne hält, aber nach drei Monaten immer noch nicht der Waschbrettbauch so hervorsticht, wie man es sich eigentlich gewünscht hätte? Oder wenn die Arme immer noch eher zwei dünnen Ästen gleichen, als an einen durchtrainierten Oberarm erinnern? 

Die Wahrscheinlichkeit, dass der eigentlich wohltuende Sport wieder aufgegeben wird, ist hoch. 

Wenn die Gier nach Muskeln zu groß wird

Aber selbst, wenn erstes Muskelwachstum zu beobachten ist, muss das nicht immer gesund sein. Gerade für Männer mit einem niedrigeren Selbstwertgefühl kann das unglaublich motivierend wirken, wenn sich langsam aber sicher etwas positiv am eigenen Erscheinungsbild ändert. Bonuspunkte, wenn Menschen aus dem eigenen Umfeld die Transformation von sich aus bemerken und anerkennend auf die Schulter klopfen. Gerade diese wohltuende Anerkennung wird zu einem Katalysator wieder ins Fitnessstudio zu gehen. Kanalisiert den Willen wieder ein paar Kilos mehr auf der Benchpress hinzufügen.  Doch in dieser Phase ändert sich etwas bei Männern mit einem niedrigeren Selbstwertgefühl. Sie definieren sich immer mehr über ihren Körper, schließlich ist er es, der sie „besonders“ macht. Aus der gesunden Motivation für den Sport und am eigenen Körper zu arbeiten, kann so schnell eine Krankheit werden. 

Yannik Thelen, Psychologe und verhaltenstherapeutischer Psychotherapeut, berät bei der Caritas München junge Männer, die dadurch in eine Spirale aus exzessivem Sport und Essstörungen geraten – die Diagnose in diesen Fällen häufig Muskeldysmorphie. „Das eigene Körperbild ist so verzerrt, dass ganz egal wie muskulös man ist, man hält sich immer für zu dünn“, erklärt er gegenüber ARTEde. „Man kommt an einen Punkt, wo der Sport zwanghaft wird, der Sport sich nicht mehr gut anfühlt. Da wird es dann problematisch.“ 

Ziel der Therapie bei Thelen sei es eigener Aussage nach Möglichkeiten und Räume zu eröffnen und das Leben wieder mit schönen Dingen zu füllen – und nicht nur mit Trainingsplänen und Ernährungsplänen.

Mehr zum Thema: