Identität

Zu Beginn einer Beziehung möchte man am liebsten nur noch Zeit mit seinem Partner verbringen. Der Rest bleibt da erst einmal auf der Strecke: Freunde werden vertröstet, Hobbys hintenangestellt, die Familienbesuche zum notwendigen Übel. So richtig genießen kann man die Zeit außerhalb der Beziehung nicht. Immer wieder stehlen sich die Gedanken fort. Was er wohl gerade macht? Ob sie mich vermisst?

Das ist zum einen vollkommen normal, aber andererseits wird es kritisch, wenn dieser Zustand über die anfängliche Verliebtheitsphase hinaus andauert und weiterhin alles andere hintenangestellt wird, nur um bei seinem Partner zu sein. Nicht selten passiert es, dass sich Freundschaften auseinanderentwickeln oder neue Bekanntschaften erst gar nicht entstehen. Am Ende hockt man dann zusammen da und fragt sich: Wo bin Ich inmitten von so viel Wir eigentlich hin?

Identitätsverlust und emotionale Abhängigkeit

Diese Art von Identitätsverlust geht nicht selten mit dem Phänomen der emotionalen Abhängigkeit einher. Betroffene besitzen oftmals ein geringes Selbstwertgefühl und entwickeln daraus starke Verlustängste. Die Angst vor dem Alleinsein verstärkt all dies noch. Die Folge: Man verliert sich selbst, bei dem Versuch, dem anderen so nah wie möglich zu sein. Doch nicht immer muss sich dahinter eine emotionale Abhängigkeit verstecken.

Auch in unauffälligen Beziehungen, bei denen man nicht unbedingt von emotionaler Abhängigkeit sprechen würde, kann man durchaus ein unausgewogenes Nähe-Distanz-Verhältnis feststellen. Sei es aus Gewohnheit oder Gemütlichkeit heraus entstanden, die Distanz weicht auch hier einer erstickenden Nähe. So unterschiedlich die Beweggründe sind, die Folgen bleiben dieselben: Sozialer Rückzug und Identitätsverlust. Meist fällt es den Betroffenen erst nach einiger Zeit auf, wenn sie einmal wieder allein und nur für sich sind. Das Wochenende bei einer alten Freundin, das Barhopping mit dem besten Kumpel fühlt sich dann an wie ein Ausbruch und die zurückgewonnene Freiheit schmeckt bittersüß. Plötzlich stellt man schwerlich fest, wie sehr man sich selbst vermisst hat. Die Sehnsucht nach mehr Unabhängigkeit und Individualität wächst noch im selben Atemzug.

Gleichzeitig schleicht sich ein ungutes Gefühl ein. Die Erkenntnis gleicht einem Schock. Denn was sagt das über die Beziehung aus? Was haben das einschleichende Gefühl des Überdrusses innerhalb der Beziehung und der Drang nach Freiheit außerhalb davon zu bedeuten? Hat sich die Liebe totgelaufen?

Gehen, um zu Bleiben

Zunächst einmal ist das Aufkommen solcher Zweifel vollkommen normal. Ich würde behaupten, dass dieses Gefühl in jeder Beziehung ab einem gewissen Punkt aufkommt. Je nach der Ausprägung des Nähe-Distanz-Verhältnis erscheint dies mehr oder weniger stark. Es ist wichtig, sich mit den Fragen zu beschäftigen, wer bin ich innerhalb der Beziehung und wer möchte ich außerhalb davon sein? Denn es ist sowohl für einen selbst als auch für die Beziehung wichtig, dass jeder auch seinen eigenen Realisierungsbereich hat. Sich selbst zu verwirklichen, bedeutet nämlich auch, etwas Neues für die Beziehung beisteuern zu können. Daraus erwächst eine neue Beziehungsdynamik, die für Schwung sorgt und einem resignierenden Stillstand entgegenwirkt. Doch wie soll man sich selbst innerhalb der festgefahrenen Strukturen (wieder)entdecken? Wie viel Freiheit verträgt eine Beziehung?

Wenn du gerade selbst nicht mehr weißt, wer du außerhalb des gewohnten Beziehungsgefüges bist, ist es schwer, dies in der bestehenden Dynamik herauszufinden. Zu sehr ist man es gewohnt, als Paar wie ein Massenwesen zu interagieren. Hier kann es nicht schaden, zu gehen, um zu bleiben, im Sinne von, sich ein Stück weit zurückzuziehen und Zeit für sich selbst zu nehmen, sich im Anderswo zu suchen und zu entdecken. Der Kunstgriff besteht letztlich darin, diese neu gewonnene Energie, wiederum in das bestehende Beziehungsgeflecht einzufügen, um dieses seinerseits zu transformieren.

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